Der Roman schildert das Leben des
jungen Mädchens Dolores mit all seinen schweren Prüfungen. Ihr Vater ist ein
Ehebrecher, die Mutter erleidet eine Abtreibung und wird darauf in die
psychiatrische Anstalt eingewiesen. Mit diesen Ereignissen beginnt aber erst der
lange Weg von Hauptfigur Dolores.
Bücher wie „Die Musik der Wale“
gibt es zuhauf. Manche nennen diese Leidensgeschichten, noch ohne sie überhaupt
gelesen zu haben, „große Literatur“, mit gefällt der Begriff
„Schicksalsbiografie“ dagegen besser. Im Stile von Charles Dickens, Khaled
Hosseini, Willy Russell & Co breitet auch Wally Lamb die (tragische)
Biografie einer fiktiven Figur aus.
Der Schlüssel zum Erfolg bei
dieser Art von Roman liegt meiner Ansicht nach in den Charakteren. Nicht nur
der Protagonist muss dem Leser durch seine Beobachtungen, Eigenheiten und
Erlebnisse ans Herz wachsen, sondern auch die Figuren, die ihm auf dem Weg
begegnen. Als Beispiel sei bloß Charles Dickens erwähnt: Die meisten Leser
werden sich sicher noch besser an Mr. Micabwer und Uriah Heep erinnern als an
David Copperfield selbst.
Das größte Problem an den
Nebenfiguren aus „Die Musik der Wale“ ist aber, dass diese selten auftauchen
und schnell wieder verschwinden. Dolores begegnet in ihren einzelnen
Lebensabschnitten vielen Menschen, diese sind aber immer nur sporadische
Begleiter. Dafür ist die
Charakterzeichnung durchaus gelungen, wenn auch ein anderes Ergebnis erreicht
werden möchte als in verträumteren Büchern. Wally Lambs Figuren kommen nämlich
reichlich unsympathisch und dafür umso authentischer daher. Diesem Stile
folgend gibt es kaum herzerweichende Momente.
Ausgerechnet Hauptfigur Dolores
ist eine der unliebsamsten Figuren. Zwar hat sie im Verlauf der Handlung viel
zu leiden und einige Konflikte auszustehen, jedoch möchte sich nie eine innige
Beziehung zu ihr einstellen. Denn Dolores ist teilweise richtig fies zu ihren
Mitmenschen und lügt sich durch die Welt.
Ich möchte die gewagte These
aufstellen, dass weibliche Leser Dolores jedoch gern haben werden. Denn diese
werden ihr sicherlich nachsehen, wenn sie willkürlich und gemein handelt, da
die Welt ihr gegenüber schließlich ziemlich fies ist. Diese Nachsicht erwartet der
Autor von allen Lesern; Zumindest mir geht es aber so, dass ich Dolores eben
nicht alles nachsehen kann. Wenn Person A und Situation B schlecht zu mir sind,
warum sollte ich dann böse auf Person C sein? Es handelt sich generell um ein
Buch für eine weibliche Zielgruppe, geht es doch um Themen wie Fettleibigkeit,
Abtreibung, Mobbing, Vergewaltigung und Ehebruch.
Im geradlinigen Plot gibt es
keine Reprisen oder überraschenden Wendungen der Marke: „Ach deswegen hat
Person F vor 20 Jahren so gehandelt. Hätte ich das gewusst!“ Sprachlich bewegt
sich Wally Lamb auf einem durchschnittlichen Niveau, dabei sollte solch ein
Roman auf dieser Ebene eigentlich mehr bieten.
Dolores wirkt zwar wenig sympathisch,
dafür aber unglaublich real. Dies ist dann auch der größte Verdient des Romans.
Wer Lust auf eine moderne Schicksalsbiografie ohne rührende, dafür aber mit
umso authentischeren Momenten hat, sollte mal einen Blick hineinwerfen. Für Freunde
von rührender und literarischer Kost der Marke Dickens ist „Die Musik der Wale“
dagegen nicht zu empfehlen.
6.0/10